Ulrich Friedrich Opfermann

Weimar und Nazi-Regime, Gegnerschaft und politische Verfolgung. Ein Überblick


Ausgangspunkte
Seit den 1960er Jahren gibt es Personenlexika zum Nationalsozialismus, die – mehr oder weniger lückenhaft – die politische und soziale Führungsschicht auf der oberen und mittleren Ebene der Reichshierarchie abbilden.1 Zu Westfalen und Lippe gibt es seit einigen Jahren Zusammenstellungen von Funktionsträgern der NSDAP und der staatlichen Verwaltung der unterschiedlichen Ebenen.2 Sowohl in den Reichs- wie auch in den regionalen Überblicken erscheinen in einer Reihe von Fällen auch Personen aus dem heutigen Kreis Siegen-Wittgenstein.
Die hier vorgelegte Darstellung beschränkt sich auf diese Region, die eine nationalsozialistische Hochburg im Raum Westfalen-Lippe war. Sie übernimmt mit ausführlicheren Angaben und mit Quellenbelegen damit die Rolle einer inzwischen vergriffenen Publikation der Geschichtswerkstatt Siegen zum regionalen Nationalsozialismus.3
Sie soll mit wesentlich erweitertem Umfang dazu beitragen, besser zu verstehen, aus welchen Strukturen der regionale Nationalsozialismus hervorging, welche Bündnisbeziehungen seinen Aufstieg und seine Durchsetzung förderten, wie er sich in der Bevölkerung verankern konnte und ob und wie die Protagonisten nach dem Zusammenbruch des Faschismus und nach dem Versuch einer gesellschaftlich-politischen Säuberung wieder Tritt fassen konnten.
Aufgenommen wurden in einer weiten Definition Personen, die im gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Leben der Region in der Zeit vom Aufkommen des Faschismus bis zu dessen Untergang als staatliches Regime, in der Phase der „Säuberung“ der regionalen Gesellschaft und im sich anschließenden Zeitabschnitt der 1950er Jahre in Dorf und Stadt von Bedeutung waren. In Einzelfällen wurden dann nichtregionale Personen aufgenommen, wenn sich bemerkenswerte Netzwerkverzweigungen in die Region hinein zeigten.
Für die Aufnahme ausschlaggebend war, ob Akteure in ihren gesellschaftlichen Rollen als Vertreter völkischer, antisemitischer, militaristischer und chauvinistischer Überzeugungen bekannt waren und mit ihrer sozialen Autorität in der Lage waren, Einfluss auszuüben. Dahinter trat zurück, ob sie aus Parteifunktionen heraus handelten. Die Frage war, ob das Wort dieser Menschen, ihr Handeln, ihre Entscheidungen beim Aufstieg, für die Errichtung und für die Sicherung des regionalen Nationalsozialismus durchgängig oder auch nur zeitweise eine wegbereitende, tragende oder auch nur zuarbeitende proaktive Rolle spielten, ob sie als Heimatforscher, Lehrer, Pfarrer, Arzt, Unternehmer, Jurist, Chorleiter oder Parteifunktionär mit ihren Vorstellungen von Geschichte, Gesellschaft und Politik Einflussgrößen waren. Es geht vor allem um die sozialen Voraussetzungen für den Aufstieg, die Etablierung und die Stabilität des regionalen Nationalsozialismus, um dessen Verankerung in der regionalen Gesellschaft.
Die Vorbemerkungen sollen nicht ohne einen Seitenblick auf das 1974 erschienene „Sie­gerländer Persönlichkeiten- und Ge­schlechter-Lexikon“4 des Heimatforschers und NS-Aktivisten Lothar Irle5 bleiben. Der größte Teil der dort präsentierten Kurzbiografien bezieht sich auf die NS-Generation, der er angehörte, und nennt damit bi­o­gra­phische Da­ten einer großen Zahl bekannter Siegerländer Nationalsozialisten sowie Hinweise auf ihre An­schlusskarrieren und macht Angaben zu Nach-NS-Ehrungen. Es bleiben jedoch NS-Kontexte einschlägiger Personen oder auch Verweise auf ihre Wegbereiterrollen fast vollständig ausgespart.6 Irle verschwieg den nicht demokratiekompatiblen Teil der politischen Biografie dieser Generation. Damit fügt diese Schrift sich ein in das zeitgenössische allgemeine Schweigen. Das vorliegende Personenlexikon der VVN-BdA bearbeitet diese breite Lücke.
Irle kompilierte auch ein nahezu judenfreies Personenlexikon. Mit dem Verschweigen der jüdischen Minderheit, die das von ihm, dem nationalsozialistischen Multifunktionär, mit emporgebrachte und bejubelte Regime aus ihrer Siegerländer Heimat vertrieben, verfolgt und vernichtet hatte, vertrieb er diese Menschen auch aus der kollektiven Erinnerung, in die er andererseits die nichtjüdischen – in seinen rassistischen Kategorien: „arischen“ – Zuwanderer ausdrücklich aufnahm. Vor der Aufnahme stand also offenbar eine Art Rassendiagnose. Das „Blut“ musste stimmen. Diesen Ansatz bekräftigte der Siegerländer Heimatverein im Vorwort mit seiner Feststellung, dass Irle die „blutsmäßigen Gegebenheiten und Zusammenhänge“ ergründet habe. Er hob die ausweislich des Lexikons durch nichtjüdische Zuwanderer herbeigeführten positiven „Blutsauffrischungen“ hervor.7
Aus aufklärerisch-kritischer Perspektive wendet sich etwa zeitgleich mit diesem Personen-Lexikon eine zweite virtuelle erinnerungskulturelle Publikation den NS-Jahren zu, ein Gedenkbuch damals Verfolgter, die nicht überlebten. Erarbeitet wurde und wird es von der Siegener NS-Gedenkstätte Aktives Museum Südwestfalen in Zusammenarbeit mit dem Historischen Institut der Universität Siegen. Irles geschichtspolitische Datensammlung wird also gleich doppelt die lange überfällige Erweiterung und Korrektur erfahren.

Beschreibung statt Bewertung
Diese Sammlung biografischer Daten stellt nicht die Frage, ob sich Handlungsträger durch ihr Tun oder ihr Unterlassen kompromitierten oder auszeichneten, ob sie sich falsch oder richtig verhielten, ob sie mit ihrem Eintritt in die NSDAP zu Nationalsozialisten wurden, es vorher vielleicht schon waren oder möglicherweise ungeachtet ihrer Mitgliedschaft in der NSDAP irgendwann oder immer schon deren politischer Gegner. Diese letzte, vielleicht etwas seltsam anmutende Ausdeutung findet sich tatsächlich als regelmäßige Aussage in zahllosen Entnazifierungsverfahren. Es wäre naiv, sie quellenunkritisch affirmativ einfach zu übernehmen. Es folgte daraus, dass in der NSDAP die Nationalsozialisten eine kleine Minderheit bildeten, eine freundliche Annahme weitab der volksgemeinschaftlichen Realität.
Ein Lexikon muss sich auf den Beschreibungsmodus beschränken, hier auf die Wiedergabe zeitgeschichtlich relevanten biografischen Materials, aus dem sich dann der Leser unter Nutzung weiteren Quellenmaterials sein eigenes Bild machen kann.
Wichtige Quellen waren die Entnazifizierungsakten (Fragebögen, Ausschussurteile, „Persilscheine“ usw.) und das Material der Prozesse gegen NS-Belastete. Beides war auf vergleichsweise kurzem Weg in den Landesarchiven in Düsseldorf bzw. Duisburg und Münster erreichbar. Es steht an der Stelle einer systematischen Auswertung der Bestände der Zentral- und der Ortskartei der NSDAP im Bundesarchiv in Berlin, weil Zeit- und Kostenaufwand hier zu hoch gewesen wären. Die Bestände des vormaligen Berlin Document Center wurden nur in einer kleineren Zahl von Fällen herangezogen. Entnazifizierungsakten als Quellen bedeutet, dass die in den Landesarchiven nachzulesenden, auf Selbstaussagen beruhenden Mitgliedschaften und deren zeitliche Dauer nicht zuverlässig sein müssen. Es ist, wie sich im Abgleich mit anderen Quellen immer wieder bestätigte, hoher quellenkritischer Abstand geboten,8 denn natürlich wurde von Betroffenen und ihren Helfern auch geschwiegen, bagatellisiert und gelogen. Andererseits aber enthalten die Entnazifizierungsakten eine Menge biografischer Angaben, wie sie die Berliner Kartei ihrem Charakter nach nicht bieten kann. Zu berücksichtigen ist, dass ein ganz erheblicher Teil der Entnazifizierungsakten spurlos verschwunden ist. Das lässt sich deshalb so bestimmt sagen, weil die Signaturen dieser Akten vorhanden blieben. Es fällt auch auf, dass die regionale unternehmerische Oberschicht innerhalb des überlieferten Entnazifizierungscorpus schwach vertreten ist. In hohem Maße ergibt die Recherche in diesem Bereich eine Fehlanzeige.9
Aus der Unvollständigkeit sowohl der beiden Berliner Karteien als auch der Entnazifizierungsakten sowie der Angaben in der vorhandenen Überlieferung ergibt sich, dass Nichtnennung dort kein Beleg für Nichtmitgliedschaft etwa in der NSDAP ist.

Relative Bedeutung der Parteibindung
Eine Vielfalt von Handlungsweisen zeigt sich. Sie lassen sich nicht auf dem kurzen Weg auf organisatorische Mitgliedschaften zurückführen. Um das an fünf Namen zu verdeutlichen:

  • Ernst Benno Eckardt, Jurist im Staatsdienst, wurde 1933 Vorsitzender des u. a. für die Kreise Sie­gen und Wittgenstein zu­stän­di­gen Dort­munder Sondergerichts, nachdem er bereits in der Weimarer Endphase im sondergerichtlichen Einsatz gestanden hatte. Er blieb es bis 1945. Er sprach etwa 70 To­des­ur­teile und machte sich einen Namen als „eiserner Strafrichter“. Er praktiziere sein Amt – so die vorgesetzte Beurteilung – „in soldatisch strenger Auffassung mit unerbittlicher Strenge und Entschlossenheit zur vollen Zufriedenheit der Parteidienststellen, der Geheimen Staatspolizei und der Anklagebehörde“. Seine Amtsführung zeige, „daß er rückhaltslos für den nationalsozialistischen Staat eintritt.“
    Ob der 1945 angesichts möglicher Folgen seines Tuns in Berleburg untergetauchte Landgerichtsdirektor 1933 in die NSDAP eintreten konnte, was er zu diesem Zeitpunkt gerne wollte, ist ungeklärt. Die Quellen ordnen ihm einerseits eine 1933er Mitgliedsnummer zu und erklären andererseits, sein Beitrittsgesuch sei abgelehnt worden, weil er Mitglied einer Freimaurerloge gewesen sei.
  • Walter Nehm, Volksschullehrer in Geisweid, war in seiner freien Zeit in der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald tätig und wanderte gern. Er trug die Goldene Ehrennadel des SGV. Auch politisch engagierte er sich: bis zum Verbot aufgrund des Republikschutzgesetzes im entschieden antisemitischen Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund („Siegerländer Hakenkreuzer“), daneben in der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP). Dort vertrat er als Ortsgruppenvorsitzender den traditionell antisemitischen christlich-sozialen Flügel, mit dem er 1930 in den Evangelischen Volksdienst wechselte. Zeitweise gehörte er dem antisemitischen Jungdeutschen Orden an. Nehm übernahm als aktiver protestantischer Christ verschiedene Funktionen in kirchlichen Zusammenhängen. Der NSDAP trat er nie bei. Warum nicht, ist unbekannt. An mangelndem Antisemitismus kann es bei ihm nicht gelegen haben. „Nicht mit der jüdischen (mosaischen) Religion“ habe man es in der „Judenfrage“ zu tun, „sondern mit der jüdischen Rasse; der Gegensatz zu Jude heißt nicht Christ, sondern Deutscher.“ So 1924, gute elf Jahre vor den Nürnberger Gesetzen, die das dann genau in diesem Sinne regelten.
  • Oskar Waldrich, erfolgreicher Siegerländer Unternehmer, trat der NSDAP 1933 bei. Funktionsträger war er nicht und sein SA-Rang (Obersturmbannführer) hatte eher eine schmückende Bedeutung. In seinen öffentlichen Auftritten, in seiner Vorbildfunktion als Angehöriger der regionalen so genannten Elite, aber zeigte er sich stets als ein zu­tiefst überzeugter Nationalsozialist und bedingungsloser Anhänger der politischen Führung. Das hat er auch nach dem Ende des Nationalsozialismus zumindest öffentlich nie bedauert, so wenig wie er überhaupt sich je von den Verhältnissen unter dem Regime distanziert hätte.
  • Der Jurist Theodor Günther, seit 1932 Bürgermeister in Berleburg, war der NSDAP bereits vor dem Parteiverbot (1925) beigetreten, hatte dann aber als Aspirant auf den Staatsdienst zunächst von seiner Partei wieder abgelassen, um 1937 erneut Mitglied zu werden. Seit 1933 hatte er sich mit großem Einsatz und rassepolitischer Begründung um die systema­tische Erfassung und Aus­son­derung der städtischen angeblichen „Zigeuner“ bemüht. Er hatte eine kritische Haltung gegenüber der Rassenpolitik des Regimes. Die war ihm nicht radikal genug. Ihm fehlte, wie er sagte, die „Beendigung“. In seiner Rolle als Bürgermeister setzte er sich konfliktbereit zu Lasten der Berleburger Minderheit über die bis dahin vom Regime gezogenen Grenzen hinweg. Er radikalisierte von unten. Nach dem Ende des Regimes war er als Justitiar für die Bayer AG tätig.
  • Wilhelm Blecher, langgedienter Verwaltungsangestellter, wechselte 1933 von der SPD in die NSDAP. Der Stadtobersekretär in Laasphe fiel nicht durch Konfliktbereitschaft auf, bis er sich 1943 erfolgreich weigerte, die von Landrat, Regierungsbezirk und Kripo erwartete Zuarbeit in seinem Amtsbereich zur Deportation der „Zigeuner“ nach Auschwitz zu leisten. Das rettete einen Teil von ihnen.

Fünf Repräsentanten der regionalen Mittel- und Oberschichten. Fünf Mal individuelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten aus einer Vielzahl von Haltungen und Handlungen in dieser Zeit. Sichtbar wird, wie wenig aussagekräftig für sich genommen selbst so gewichtige Informationen wie die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur NSDAP, ihren Gliederungen und angeschlossenen Verbänden und der Zeitpunkt des Beitritts sind.

Zeitgeschichtliche und soziale Kontexte
Für das Verständnis der Biografien sind die zeitgeschichtlichen Kontexte unverzichtbar. Dazu gehört, dass es sich bei der regionalen NSDAP um eine Volkspartei handelte, und zwar bereits vor der Machtübergabe.10 Ihr regionaler Erfolg ist von einer anderen Erfolgsgeschichte nicht zu trennen. Die NS-Bewegung hatte einen Vorgänger in der christlich-sozialen Bewegung, personalisierend in der Region nach ihrem langjährigen Führer gerne auch als „Stoecker-Bewegung“ bezeichnet. Sie war die mit einigem Abstand größte politische Volksbewegung, die es in dieser Region je gab. Der ausgeprägte Antisemitismus der protestantischen Christlich-Sozialen unterschied sie in Agitation und Programmatik von anderen Konservativen. Adolf Stoecker nannte sich „Vater“ und „Begründer“ der antisemitischen Bewegung. Nach dem Ende des Kaiserreichs schloss sich die christlich-soziale Bewegung als Parteiströmung der 1918 gegründeten Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) an. 1930 verließen viele regionale Kritiker des Hugenberg-Kurses die DNVP, um sich mit anderen Christlich-Sozialen im Reich zum Evangelischen Volksdienst (EVD)/Christlich-Sozialen Volksdienst (CSVD) zusammenzuschließen. Der regionale EVD gehörte dort zum radikalen, verfassungsfeindlichen Flügel um den Stoecker-Schwiegersohn Reinhard Mumm. Der Bruch mit Hugenberg war kein Bruch mit dem angestammten Antisemitismus. Der ging nach wie vor mit preußischem Protestantismus beim EVD in eins.
Die politische Arbeit sahen die Christlich-Sozialen als Gottesdienst und Mission. Sie waren gegen alles Linke und zugleich pflegten sie eine antikapitalistische Rhetorik. Diese beiden im tiefsten Widerspruch stehenden Seiten ihrer Politik verknüpfte ihr Antisemitismus: die Linke sei verjudet, der Kapitalismus sei verjudet. Der soziale und ökonomische Grundkonflikt wurde von den Christlich-Sozialen ins Rassische umgedeutet. Antisemitismus war demnach keine Nebensache, sondern gehörte zur Essenz ihrer Programmatik. Die Christlich-Sozialen waren Rassisten, so wie sie Chauvinisten waren und das Militär verherrlichten. Und sie waren „Bewegung“ und nicht nur Partei und Wahlverein, so wie die Nationalsozialisten „Bewegung“ waren. Im Reich bedeutungslos, waren die Christlich-Sozialen in der protestantischen Bevölkerung der Kreise Siegen und Wittgenstein seit den 1880er Jahren hegemonial. In ihrer Nachfolge erlebten hier die Nationalsozialisten frühe Erfolge.
Dabei profitierten sie auch von der innerhalb des rechten „vaterländischen“ Lagers praktizierten Bündnis- und Einheitspolitik. Nationalsozialisten waren ein anerkannter selbstverständlicher Teil dieses Lagers. Diese Sachverhalte sind in ihrem Zusammenhang zu sehen, natürlich auch dann, wenn es um die Handlungsträger geht. Auch deshalb kann dieses Verzeichnis sich nicht auf eingeschriebene Nationalsozialisten beschränken. Es ist an einen Grundsatz zu erinnern, der bei dem Versuch einer Säuberung von Gesellschaft und Politik durch eine „Entnazifizierung“ zu praktizieren war und der nach einer der Siegerländer Entnazifizierungsakten unter Verweis auf die alliierten Vorgaben so lautete: „Die Kontrollkommission hat angeordnet: Bei Ausfüllen des Fragebogens ist … die Mitgliedschaft bei jeder Partei oder Organisation in Deutschland zu erwähnen, die in der Zeit, als die NSDAP an die Macht kam, sie letztlich unterstützt hat, z. B. Hugenbergs Harzburger Frontgruppen der Deutschnationalen Volkspartei, des Stahlhelms, später als NS-Frontkämpferbund bekannt, und des Kyffhäuserbundes.“11
Vorläufer oder Nachbarn der Nationalsozialisten innerhalb des völkisch-nationalistischen Lagers waren nicht nur die Christlich-Sozialen oder die Hugenberg-Vertreter in der DNVP. Es gab eine Fülle weiterer Zusammenschlüsse: etwa die kleine, programmatisch ähnlich wie die NSDAP gestrickte Deutsch-Sozialistische Partei, den Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund, die Ersatzorganisationen, Nachfolgeorganisationen und Abspaltungen der NSDAP, die Wehrverbände von den Freikorps bis zum Stahlhelm, den Jungdeutschen Orden usw.
Dichte und Akzeptanz der Weimarer nationalistisch-völkischen Rechten dürften im protestantischen Teil der Region deutlich höher als im Schnitt der Reichsbevölkerung oder, was diese Region angeht, in der katholischen Teilregion („Johannland“) ausgefallen sein. Die soziale Basis dieses Teils des Rechtsspektrums waren hier wie überall die besitz-, bildungs- und kleinbürgerlichen protestantischen Mittelschichten, also Menschen mit sogenannten geistigen Berufen, mit mehr oder weniger materiellem Vermögen und die zahlreichen absturzgefährdeten Möchtegerne aus den unteren Segmenten des Bürgertums. Aber – und das ist das Besondere – hinzu trat eine mehrheitlich rückständige protestantische Arbeiterschaft, der aufgeklärt-emanzipatorisches Denken völlig fremd geblieben war.
Diese sozialen und politischen Kräfte, nicht die unbedeutende und zudem uneinige Linke in einem kleineren Teil der Arbeiterschaft und in der Arbeitslosenbewegung oder das im Johannland dominierende katholische Zentrum bestimmten den regionalen Gang der Dinge. Hier liegen damit auch besondere Verantwortlichkeiten, daher ja auch das enorme Entlastungsbedürfnis nach dem Kollaps des großen völkischen Plans und nach den Massenverbrechen, daher die „Persilscheine“ aus den vielfältig verästelten Beziehungsgeflechten, daher eine Entnazifizierung, die keine war, sondern eine „Mitläuferfabrik“ (Lutz Niethammer, 1972), und das große Schweigen in der Breite der regionalen Gesellschaft. So spiegelt es sich unvermeidlich auch in diesem regionalen Personenverzeichnis.

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1 Erich Stockhorst: Fünftausend Köpfe. Wer war was im Dritten Reich, Velbert/Kettwig 1967 (Verleger war der durch apologetische und revisionistische Literatur zum Nationalsozialismus hervorgetretene Journalist Siegfried Knappe-Hardenberg, kurzzeitig 1949 Chefredakteur der Siegener Zeitung); Robert Wistrich, Wer war wer im Dritten Reich. Anhänger, Mitläufer, Gegner aus Politik, Wirtschaft, Militär, Kunst und Wissenschaft. Überarbeitet und erweitert durch Hermann Weiß, München 1983; Hermann Weiss (Hrsg.): Biographisches Lexikon zum Dritten Reich. Frankfurt am Main 1998; Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt (Main) 1999; ders., Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945?, Frankfurt (Main) 2003.
2 Wolfgang Stelbrink, Die Kreisleiter der NSDAP in Westfalen und Lippe Versuch einer Kollektivbiographie mit biographischem Anhang, Münster 2003; Leitende Verwaltungsbeamte und Funktionsträger in Westfalen und Lippe (1918 bis 1945/46). Biographisches Handbuch, Münster 2004.
3 Ulrich Friedrich Opfermann, Siegerland und Wittgenstein im Nationalsozialismus. Personen, Daten, Literatur. Ein Handbuch zur regionalen Zeitgeschichte (Siegener Beiträge, Sonderband 2001), Siegen 2000; 2. Aufl. 2001.
4 Lothar Irle, Siegerländer Persönlichkeiten- und Geschlechter-Lexikon, Siegen 1974.
5 Volkstumsexperte und Heimatfreund, notorischer Antisemit und früher NS-Aktivist, siehe: Rainer S. Elkar, Die Memoria des Dr. Lothar Irle. Ein Beitrag zur Geschichte eines „Ur-Siegerländers“, in: Siegener Beiträge, 18 (2013), S. 217-233; Thomas Wolf, Lothar Irle (1905-1974). Eine biographische Skizze eines Heimat- und Familienforschers, ebenda, S. 234-246.
6 Ebenda, S. 158.
7 Irle, S. 7.
8 Als Beispiele eines affirmativ-entlastenden Umgangs mit Entnazifizierungsdaten siehe z. B.: Manuel Zeiler, Otto Krasa. Ein Heimatforscher in der Pionierphase der prähistorischen Archäologie, in: Siegener Beiträge 17 (2012), S. 247-270, S. 258ff.; Dieter Pfau, Die Geschichte der Juden im Amt Ferndorf (1797-1943). „Den Juden ist aber hier kein Leid zugefügt worden“, Bielefeld 2012, passsim, besonders auffällig auf S. 108, 112.
9 Vgl. z. B.: Feststellung Spruchgericht Bielefeld an Hauptausschuss Arnsberg im Entnazifizierungsverfahren zu Heinrich Schmidt: „Leider sind in der letzten Zeit mehrere Akten, die an Entnazifizierungsbehörden versandt wurden, in Verlust geraten.“ (17.3.1950)
10 Zur NSDAP als Volkspartei siehe: Jürgen W. Falter, Wer wurde Nationalsozialist? Eine Überprüfung von Theorien über die Massenbasis des Nationalsozialismus anhand neuer Datensätze zur NSDAP-Mitgliedschaft 1925-1932, in: Helge Grabitz/Klaus Bästlein/Johannes Tuchel u. a. (Hrsg.), Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, Berlin 1994, S. 20-41. Dort auch umfangreiche Literaturhinweise.
11 LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1.110-458 (Adolf Stähler)

 

 

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